Zwangsarbeiter in der ehemaligen Augustaschule

Inhaltsverzeichnis

Der Hochbunker
Einrichtung eines Erinnerungsortes für Zwangsarbeit, Ausstellungen und Aktionen der AG Geschichte/Kunst
Der Familienbunker des Ostarbeiters "Derewjanko"
Die Fotografien des Wehrmachtssoldaten Gerhard Petrick

Weiterführende Links:
Pulverfabrik Liebenau - http://www.martinguse.de/pulverfabrik/projekt.htm
Pulverfabrik Liebenau - http://www.japl.de/
Netzwerk Weiße Rose

Ausstellung "Innen und Außen": Netzwerk Weiße Rose

Der Hochbunker an der Pallasstraße in Berlin-Schöneberg

Von der Augustaschule zum Augustalager- Zwangsarbeit in Berlin-Schöneberg 1943-1945

In der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin-Schöneberg hängt seit dem 8. Mai 1995 eine Gedenktafel, die daran erinnert, dass sich im Schulgebäude vom Herbst 1943 bis zum Kriegsende 1945 ein Lager für sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter befand. Auch Kinder und Jugendliche waren aus der Sowjetunion nach Berlin deportiert worden und mussten zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern im Lager leben. Alle arbeitsfähigen Internierten mussten einen Fernmeldehochbunker errichten, der noch heute auf dem Schulhof steht.

In Schöneberg gab es Hinweise auf Zwangsarbeiterlager im Bezirk, aber keine Dokumente oder Zeitzeugenberichte. In einer Studie über "Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterlager in der faschistischen Reichshauptstadt Berlin 1939-1945" (1) heißt es über den Lagerstandort auf dem Gelände der heutigen Sophie-Scholl-Oberschule: "Gemeinschaftslager für ausländische Arbeiter / Berlin-Schöneberg / Elßholzstraße 34-37 / sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter / Bunkerbau Philipp Holzmann AG" und eine weitere Angabe lautet: " Ausländerlager Berlin-Schöneberg / Elßholzstraße 1/2 / Deutsche Reichspost, Augustaschule / heute Sophie-Scholl-Oberschule / durch Luftangriff am 2.2.1943 und 2.2.1945 beschädigt." (2) Drei Ausstellungen zum Leben in Schöneberg/Friedenau 1933-1945 mit den Themenschwerpunkten "Spurensicherung" und "Alltag im Nationalsozialismus, Gewaltherrschaft und Widerstand" (3) boten vielfältige Gelegenheiten, mit Anwohnern ins Gespräch zu kommen, aber zum Komplex "Augustalager" gab es keine Aussagen.

Im Juni 1994 schrieb Frau Maria Derewjanko aus Lviv (Lemberg) in der Ukraine einen Brief an die "Schulleitung der Augustschule, Berlin. Das Haus ist gleich um die Ecke Palas Straße und Ishold Straße. Deutsche Bundesrepublik." In der Nacht der Bombardierung und Teilzerstörung des Schulgebäudes hatte Maria Derewjanko im Luftschutzbunker Gespräche von Anwohnern mitgehört, in denen diese über die Zerstörung der "Augustaschule" sprachen. Nur diese Gesprächsfetzen versetzten sie in die Lage, den Ort ihrer Internierung zu kennen. Die Straßennamen "Pallasstraße und "Elßholzstraße" holten sich Maria Derewjanko und ihr Bruder Wassilij in mühevoller Kleinarbeit in ihr Gedächtnis zurück.

Ein weiterer Kontakt zu ehemaligen Internierten ergab sich im Mai 1997, als Frau Besgina Pelageja Philippowna einen Brief an den Oberbürgermeister von Berlin schrieb, der glücklicherweise die Sophie-Scholl-Oberschule erreichte. Der Brief war vom 25.März1997 und Frau Besgina schrieb:" ...Seit Mai 1943 bis April 1945 verweilte ich mit meinen drei Töchtern in Berlin. Man brachte uns zu Zwangsarbeit aus Mariupol / Ukraine nach Deutschland. Meine ältere Tochter Walentina wurde 1931 geboren, die mittlere Lidija 1938 und die jüngste Olga 1942. Wir wohnten und arbeiteten im Lager, Palazstrasse 35/37 Augustschule..." Die drei Frauen wurden von der Sophie-Scholl-Oberschule eingeladen und sie weilten im Mai 1999 in Berlin-Schöneberg, die Mutter war leider bereits 1993 verstorben.

Die Sophie-Scholl-Oberschule sprach in einem Schreiben an die Deutsche Botschaft in Kiew eine Einladung an Maria Derewjanko aus, so dass diese im Oktober 1994 nach 49 Jahren wieder in Berlin-Schöneberg sein konnte. Lehrer der Sophie-Scholl-Oberschule hatten ein umfangreiches Besuchsprogramm vorbereitet, an dessen Anfang ein ausführliches Gespräch stand.

Die Familie Derewjanko lebte in Konstantinovka im Donezk-Gebiet. Die älteste siebzehnjährigeTochter Katerina wurde 1942 verhaftet, es gelang ihr die Flucht, aber im März 1943 wurde sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, in das Ostarbeiterlager nach Steyerberg, um in der Pulverfabrik zu arbeiten. Die Eltern, Maria (12 Jahre) und die beiden Söhne Wassilij (16 Jahre) und Nikolaij (6 Jahre) wurden im Herbst 1943 während einer Razzia verhaftet, denn die deutsche Wehrmacht zog sich aus dem gesamten Charkower Gebiet zurück.(4) Der Transport in das Deutsche Reich erfolgte mit Güterwagen der Deutschen Reichsbahn, Erinnerungen an den Transport sind verständlicherweise lückenhaft, sei es aufgrund des jugendlichen Alters oder der gefangenenähnlichen Situation. Maria Derewjanko erinnerte sich im Gespräch an ein Durchgangslager in Przemysl (Polen), die heutige Grenzstadt zur Ukraine. Der Ort der Ankunft in Berlin ist unbekannt, es handelte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um das Durchgangslager für Zwangs- und Fremdarbeiter in Berlin-Wilhelmshagen (5). Der Standort des Lagers war im Wald, unmittelbar südlich der Bahnstrecke zwischen den S-Bahnhöfen Wilhelmshagen bzw. Erkner an der Fürstenwalder Allee (6).

Es gab von Seiten der Interessierten der Sophie-Scholl-Oberschule viele Fragen an Maria Derewjanko, die sie nicht alle beantworten konnte, aber sie wollte sie an ihren Bruder Wassilij weiterleiten, der, damals sechszehnjährig, gezwungen war, aktiv am Bunkerbau mitzuarbeiten.

Im Mai 1996 besuchte Maria Derewjanko zum zweiten Mal den Ort ihrer Internierung in Berlin-Schöneberg, diesmal in Begleitung ihres Bruders Wassilij. Gleich nach der Ankunft auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg wollte Wassilij Derewjanko die Schule und den Bunker sehen. Es bleibt unvergesslich, wie er nach 51 Jahren vor "seinem" Bunker stand, wie er sagte. Fast war es unbegreiflich, dass es möglich geworden war, einen ehemaligen Zwangsarbeiter, der zum Bunkerbau gezwungen worden war, am ehemaligen Lagerstandort zu empfangen. Die Gefühle aller Anwesenden waren entsprechend.

Wassilij Derewjanko erinnerte sich an viele Details, nicht nur den Bunker betreffend. Er ging noch am Morgen des Ankunftstages durch die Straßen in der Umgebung der Sophie-Scholl-Oberschule, um sich zu erinnern. Am nahen Nollendorfplatz hatte er versucht, ein wenig Geld zu verdienen oder Lebensmittelmarken zu bekommen. Er bot Deutschen am Ausgang des U-Bahnhofs seine Dienste als Gepäckträger an. Da es sich oft um ältere Anwohnerinnen oder Invaliden handelte, waren seine Dienste willkommen, er erfuhr aber auch Ablehnung, besonders durch Uniformierte, die ihn traten und als "Scheißrussen" beschimpften. Den Aufnäher "OST", den alle sogenannten Ostarbeiter am Revers ihrer Kleidung tragen mussten, versuchte er zu verbergen. Auch eine Berliner "Kneipe" war ihm im Gedächtnis geblieben, sie war gegenüber dem Lagergebäude in der Pallasstrasse. Ein Anwohner, der damals als Vierzehnjähriger mit seiner Mutter in der Pallasstrasse 12 wohnte, kann sich an "Ostarbeiter" vor dem Haus erinnern, ohne genau zu wissen, ob es sich um Internierte des "Augustalagers" handelte(7).

Der Hochbunker an der Pallasstrasse wurde als Fernmeldebunker gebaut. Das Fernmeldeamt in der nahegelegenen Winterfeldtstrasse hatte eine wichtige Funktion in der Reichshauptstadt und die Bereitstellung von Baustoffen bis zum April 1945 deutet auf die hohe Priorität der Fertigstellung des Hochbunkers hin.

Das Baugelände des Hochbunkers wurde 1943 freigeräumt. Vorher befand sich dort eine baulich ungeordnete Fläche mit Garagen, auch von einem Kohlenlager ist die Rede. Der Hauptnutzer war die Firma Gustav Janke, die auf dem Grundstück Pallasstrasse 33 eine Tankstelle der Marke "BP" betrieb (8). Ursprünglich war auf dem Grundstück die Erweiterung des Zentralgebäudes der Vermögensverwaltung der "Deutschen Arbeitsfront" (DAF) vorgesehen. Es befand sich von 1939 bis 1940 in der Potsdamer Strasse 180-182. Die DAF kaufte das "Areal Pallasstrasse 28 bis 34, um dort einen zusätzlichen Neubau zu errichten....Der in einem weiteren Bauabschnitt pojektierte Erweiterungsbau in der Pallasstrasse sollte sich dreiflügelig, einen großen Vorplatz erschliessend, an den rückwärtigen Giebel der vorhandenen Eckbebauung anlehnen....Auf dem Grundstück in der Pallasstrasse, dass für den Erweiterungsbau vorgesehen war, entstand während des Krieges ein Lufthochschutzbunker, der das nahegelegene Fernmeldeamt 1 (Winterfeldtstrasse ) aufnehmen sollte.(9)"

Der Erweiterungsbau hätte auch einen Ehrenhof der DAF umfassen sollen, der von der Pallasstrasse her zugänglich gewesen wäre(10).

Die Schülerinnen der Staatlichen Augustaschule, es handelte sich um eine Mädchenschule, waren im Rahmen der Kinderlandverschickung (KLV) in den Raum Cottbus evakuiert worden. Zusammen mit ihren Lehrern sollten sie dort vor den Bomben auf die Reichshauptstadt Berlin in Sicherheit sein. Die Zeit ihrer Sommerferien wurde genutzt , um aus der Schule ein Zwangsarbeiterlager zu machen. Die Sicherheit, die deutschen Jugendlichen zugestanden wurde, war kein Kriterium bei der Unterbringung von "Ostarbeitern" und ihrer Familien, ab Herbst 1943 war im Gebäude der "Augusta-Schule" das "Augustalager".

Als die Internierten das Lagergrundstück erreichten, war laut der Aussage von Wassilij Derewjanko die Baugrube für den Hochbunker bereits ausgehoben. Ein Kran und eine Betonmischmaschine standen an der Westseite des zukünftigen Hochbunkers bereit. Das Nachbargrundstück zum Heinrich-von-Kleist-Park war mit Baustoffen belegt, außerdem befanden sich dort die Baracken der deutschen Vorarbeiter. Ein Feldeisenbahngleis verband den Winterfeldtplatz mit der Baustelle des Hochbunkers. Eine kleine Dampflokomotive zog Loren , um Zement, Kies und Sand zu transportieren (11).

Die Arbeit beim Bunkerbau war für die Internierten ungewohnt ,hart und gefährlich. Wassillij Derewjanko spricht von Vorarbeitern, die ihm geholfen haben, indem sie Frühstücksbrote an bestimmten Orten deponierten. Ein Vorarbeiter nannte ihn "Söhnchen". Es war für die Internierten eine ungewohnte und schwere Arbeit. Sie mussten auf schmalen Brettern mit Karren voller Beton balancieren . Einzelne Zwangsarbeiter mussten mit Druckluftgeräten den Beton verdichten, eine Tätigkeit, die die Gelenke über Gebühr strapazierte. Der Hunger "regierte" im Lager und es nicht bekannt, wie viele Internierte durch "Arbeit vernichtet wurden"(12).Der Hunger und die Bombenangriffe, sie sind es, die in den Berichten der ehemaligen Zwangsarbeiter als schreckliche und lebensbedrohende Erscheinung immer wieder Erwähnung finden. Maria Derewjanko sagte zu diesem Komplex in einem Interwiew des Senders Freies Berlin:" Es fällt mir schwer, einen Tag aus dem Lagerleben herauszunehmen, woran ich mich heute vor allem erinnere, sind die Bombenangriffe und der Hunger. Nachts mussten wir aufstehen, um in den Luftschutzkeller zu gehen, tagsüber mussten wir etwas zu essen finden.... Das Allerschlimmste war für uns dieser große Bombenangriff (vom 2./3. Februar 1945, d.Vf.), unter den Trümmern lagen Menschen, die noch lange geschrien und gestöhnt haben und nach Wasser riefen. Irgendwann war das vorbei, aber die Bilder haben sich im Kopf festgesetzt, und die Schreie hatte ich noch lange in den Ohren."(13)

Das Leben im Lager war durch den Arbeitsrhythmus der Erwachsenen geprägt. Der Arbeitstag umfasste zwölf Stunden, unterbrochen von einer Mittagspause. Es kam aber auch vor, das mit anbrechender Helligkeit geweckt wurde, so das vierzehn Stunden und mehr gearbeitet werden musste (14). Die Jugendlichen bildeten kleine Gruppen, um die schwere Arbeit wie die Erwachsenen bewältigen zu können, z.B. beim Transport der voll beladenen Kipploren (15).Die Kinder hatten derweil im Lagergebäude zu bleiben, wobei die älteren auf die noch jüngeren aufzupassen hatten. Maria Derewjanko hatte in der Turnhalle der Augustaschule mit anderen diese Aufgabe inne, die ihrer Aussage nach eine mühelose war. Die jüngsten Kinder spielten unbedarft mit den Ausrüstungsgegenständen, wie sie in einer Turnhalle vorhanden sind ,z.B. mit Bällen, Reifen oder auf den Matten für das Bodenturnen. Die älteren saßen lethargisch auf dem Hallenboden, sie hatten großen Hunger und warteten auf die nächste Mahlzeit. Sie hatten nicht begriffen, was um sie herum geschah, sie vermissten die Eltern und die Geschwister in dieser für sie völlig fremden und kinderfeindlichen Umgebung.

Die drei Töchter von Pelageja Besgina verließen das Lager nie, denn die Mutter, die zum Bunkerbau gezwungen wurde, hatte Walentina aufgetragen, auf die Schwestern aufzupassen. Für Walentina gab es nur die Gelegenheit, die Mutter auf der nahen Baustelle aufzusuchen. Maria Derewjanko verließ das Lagergelände unerlaubterweise durch die Baustelleneinfahrt, auch mit ihren Geschwistern. Sie kaufte auf dem nahegelegenen Winterfeldtmarkt Gemüse oder auch Malzbier, außerdem warfen sie Münzen in Fotoautomaten, um sich gemeinsam ablichten zu lassen. Einige Bilder haben den Krieg überdauert und Maria Derewjanko hat der Sophie-Scholl-Oberschule bei ihrem ersten Besuch ein Bild dieser Serie geschenkt (16).

Bei Bombenangriffen suchten die Lagerinsassen gemeinsam mit Anwohnern den Luftschutzkeller im Schulgebäude auf. Es herrschte dort immer eine drangvolle Enge, zumal sich die Bombenangriffe häuften, denn der Standort der Augusta-Schule war in dichtbesiedeltem Gebiet innerhalb des Berliner S-Bahnrings und nur zweieinhalb Kilometer vom "Führerbunker" unter der Reichskanzlei entfernt. Die nervenzerreißende Situation im Luftschutzkeller veranlasste die Mutter der Geschwister, den illegalen Aufenthalt im Bunkerrohbau vorzuschlagen. Dieser Standortwechsel rettete der Familie Derewjanko das Leben. Der Bunker war nur mit schwachem Licht ausgeleuchtet. Die Deutschen betraten den Bunker von der Pallasstrasse, es bildeten sich an den Abenden ganze Karawanen von Anwohnern in Richtung Schutzraum, an den beiden Eingängen bildeten sich dementsprechend lange Schlangen. Mit Zwangsarbeitern kamen die Deutschen im Bunker nicht in Berührung (17). Die Zwangsarbeiter erinnern sich, den Bunker von der Schulhofseite betreten zu haben. Eine Anwohnerin hatte die Deutschen immer in den unteren Geschossen gesehen. Die Lagerinsassen waren immer oben, denn dort war die Luft stickig und die Lebensgefahr bei einem Bombentreffer am größten (18).

Die Familie Derewjanko verließ das Lager im April 1945, das genaue Datum ist nicht bekannt. Die Vorarbeiter sprachen mit ihnen über das Vorrücken der Roten Armee und die Einkesselung Berlins und sie erlaubten ihnen, das Arbeitslager bzw. die Baustelle zu verlassen. Die Töchter von Pelageja Besgina wurden mit ihrer Mutter im Bunker befreit. Wahrscheinlich wagte die Mutter nicht, allein mit ihren kleinen Kindern das Inferno in den Strassen von Berlin zu erleben. Im Angesicht des drohenden Todes bei den Bombenangriffen hatte sie es beim Lagerführer durchgesetzt, dass Lidia und Olga am 17. September 1944 in der Russisch-Orthodoxen Gemeinde an der Christi-Auferstehungskathedrale in Berlin-Wilmersdorf getauft werden konnten (19). Die Befreiung erfolgte wahrscheinlich am 27. April 1945, denn die Frontlinie verlief an diesem Tage in der Nähe der Pallasstrasse bevor die Rote Armee in der Nacht zum 1. Mai die Reichskanzlei einnehmen konnte. Das Dach im Obergeschoss des Bunkers war nicht vollständig fertiggestellt, so dass es möglich war, dort "weisse" Fahnen zu zeigen. Vorher hatten die deutschen Frauen mit Lippenstiften rote Kreuze auf Tücher gemalt und an Holzlatten befestigt.

Der erste Rotarmist begegnete der vierzehnjährigen Walentina im obersten Geschoss, er sprach sie an, nahm sie an die Hand und führte sie auf die Strasse. Dort wurden alle Zwangsarbeiter gesammelt und umgehend an den Rand der Stadt in Sicherheit gebracht. Der erzwungene Aufenthalt im Augustalager hatte ein Ende.

Im Filtrationslager in Frankfurt / Oder wurden alle Zwangsarbeiter vom sowjetischen NKWD registriert. Nach langen Bahntransporten erreichten alle uns bekannten Zwangsarbeiter ihre Heimat. Ihre schreckliche Lagerhaft war vorbei, aber sie fanden nur verbrannte Erde, hinterlassen von der deutschen Besatzungsmacht.

Der Hochbunker an der Pallasstraße blieb unvollendet als Rohbau stehen - am 17.8.1945 (die Potsdamer Konferenz war fünfzehn Tage vorher beendet worden) schrieb der "Magistrat der Stadt Berlin - Abteilung für Finanz- und Steuerwesen; Berlin W 15, Kurfürstendamm 190/192" an die "Abteilung II" unter " Betrifft: Staatseigenes Grundstück Berlin-Schöneberg, Pallasstr. 28-34. - Bunker- a) Zustand des Grundstücks und Sofortmaßnahmen für Instandsetzungen: Neu erbauter Luftschutzbunker. Zum Teil noch mit Baugerüst umgeben. Auf dem Baugelände lagert noch viel Bauholz und Baumaterial. Auch Baugeräte, Hebekräne, Feldbahngleise und Wagen. Die Baufirma Pf. Holzmann läßt entsprechend dem Bedarf an anderen Baustellen das Baumaterial abfahren. Die Räumung wird allerdings noch längere zeit in Anspruch nehmen." Unter dem Buchstaben g) heißt es:" Früherer Eigentümer oder Nutznießer: Früherer Nutznießer des Grundstücks war die Firma Janke mit einem großen Garagenhof." (20)

Vom 4. Februar 1946 liegt ein Schriftstück vor, das besagt, dass "Grundbuchakten für Pallasstr. 28-34 z.Zt. nicht greifbar. Eigentümer daher nicht festzustellen. Postbunker, Oberpostdirektion, z.Zt. leer, unbenutzt, noch Rohbau, Dach noch nicht fertig. Der Hochbunker diente zur Unterbringung von Fernsprechkabel für das Fernmeldeamt Winterfeldstr. Kein Personenbunker. Nicht verschlossen." (21)

Die Tagebucheintragung 847/49 der Polizei-Inspektion-Schöneberg/Polizeirevier 182 vom 13.12.1949 betraf den "Bunker in Berlin W 35, Pallasstraße: In letzter Zeit ist wiederholt festgestellt worden, daß der Bunker in der Pallasstr. von Kindern und Halbwüchsigen des öfteren besucht wird, die dort teilweise spielen, bzw. ihr Unwesen treiben...Der Bunker ist mit 5 Eingängen versehen. Durch eine Sprengung, die im Jahre 1948 erfolgte, sind im inneren Teil des Bunkers Luftschächte und Deckendurchbrüche entstanden. In verschiedenen Räumen befinden sich noch Strohsäcke, und das Erdgeschoß ist unter Wasser...Angesichts dieser Gefahrenquelle ist es erforderlich, den Bunker durch einen Zaun einzufrieden bzw. die Eingänge so zu verriegeln, daß Unbefugte keine Zutritt haben."(22)

Das "Bezirksamt Schöneberg von Groß-Berlin" schrieb am 6. März 1950 unter "Betr. Bunker Pallasstr. 28/34" an das Amt für Aufbau und bat um "die Auslieferung von 4200 Hintermauerungssteinen zur Beseitigung der Gefahrenquellen des o.g. Bunker". Eine handschriftliche Notiz vermerkt "Bunkereingänge werden zugemauert... 14.3.50"

Am 6.6.1950 wurde ein dreiseitiger Vermerk angelegt, in dem die Eigentumsverhältnisse und der Umgang mit dem Gelände beschrieben werden: "...Auf Grund der von der amerikanischen Militärregierung verfügten Abgabe ehem. Preuß. Besitzes an den Magistrat von Berlin erfolgte der Übergang der Verwaltung des Grundstückes auf unser Amt mit dem 1.9.1949...Das Grundstück befand sich am Tage der Übernahme in einem vollkommnen verwahrlosten Zustand. Wie von uns festgestellt und auch vom zuständigen Polizeirevier bestätigt wurde, nächtigten in dem von allen Seiten zugänglich gewesenen Hochbunker, der sich auf dem Grundstück befindet (von der ehem. Reichspost errichtet), Straßenmädchen und Diebesgesindel...Die größten Schwierigkeiten entstanden uns nach der Übernahme...dadurch, daß wir zunächst erst einmal die Vertragsangelegenheit zwischen dem ehem. Preuß. Staat und Herrn Gustav Janke (als Mieter) (23) zu klären hatten...Bekanntlich trat Janke das (v)ermietete Grundstück völlig an die Reichspost zur Errichtung des noch vorhandenen Bunkers im Jahr 1944 ab. Mit dem Baubeginn des Bunkers durch die Post wurden auch alle von J. errichteten Baulichkeiten (Verkaufsraum, Garagen, Tankanlagen usw.). entfernt." (24)

Das Erdgeschoss des Bunkers wurde 1953 an den Tankstellen- und Garagenbetrieb Heinz Girnt vermietet. Die vorher durchgeführten Sprengungen hatten eine "kleine ebenerdige Fläche" verschont.(25) Die Einfahrt ist auf der Schulhofseite noch heute deutlich zu sehen.

Die "Welt" berichtete am 17.1.1960 unter der Überschrift "Neue Ausschreitungen" über antisemitische Schmierereien in Berlin, Triest, Stockholm sowie aus mehreren Städten in den USA und Italien. Die Berliner Schmierereien wurden ausführlich beschrieben: "Unbekannte Täter haben in der Nacht zum Sonnabend zwei Hakenkreuze, SS-Runen und einen Totenkopf mit gekreuzten Schwertern an die eines Hochbunkers in der Pallasstraße in Schöneberg geschmiert. Sie benutzten dazu braune Ölfarbe."

Eher eine Episode, aber trotzdem erwähnenswert, weil historisch und architektonisch zusammengehörig, war die "Entsorgung" eines Brunnens, der ursprünglich im Hof des Entschädigungsamtes gestanden hatte. (26) Eine Berliner Zeitung titelte am 4. Juni 1970 "Brunnen in Einzelteile zerlegt und hinter Bunker versteckt. Schöneberger Bezirksamt stört sich an der 'braunen' Herkunft. Jetzt liegt der Brunnen auf einem eigens für ihn eingezäunten Grundstück hinter dem Bunker an der Pallasstraße. Während der Bunker jedoch noch massiv an die Nazizeit erinnert, wurde sein Zeitgenosse aus Sandstein zerlegt. Bauarbeiten... waren offenbar der willkommene Anlaß, sich dieser Zier zu entledigen. (Der Brunnen) wurde vermutlich in den dreißiger Jahren von dem NS-Bildhauer Arno Breker geschaffen. In Einzelteile zerlegt, wanderte er hinter den Bunker."(27)

Der Autor führte seit 1981 Stadtrundgänge mit interessierten Bürgern durch und es ergaben sich immer Diskussionen, ob der Bunker in der Vergangenheit zur Sprengung vorgesehen gewesen sei oder nicht. Die Wahrheit ist, dass bereits 1964 vom Senator für Bau- und Wohnungswesen ein Verbot ausgesprochen wurde, Bunker zu beseitigen, "die noch nicht zum Einsturz gebracht sind...Enttrümmerungsmaßnahmen sind untersagt worden, weil der Bunker im Bereich des Kontrollratsgebäudes liegt."(28)

Die SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Schöneberg stellte am 17.3.1965 einen Antrag, der alle zuständigen Stellen aufforderte, "...Maßnahmen einzuleiten, die zum Abriß des Bunkers führen." In der Antwort des Senators für Sicherheit und Ordnung wurde die "Luftschutzanlage als erhaltenswürdig für Zivilschutzzwecke angesehen" und am 5.2.1975 setzte der Senator für Inneres das Bezirksamt Schöneberg

davon in Kenntnis, dass...der Hochbunker vom Jahr 1976 als öffentlicher Schutzraum ausgebaut (wird)." Das "Spandauer Volksblatt" veröffentlichte am 8. Februar 1976 einen Artikel mit der Überschrift: "Was soll mit dem Bunker geschehen?" Der Autor schildert das schlechte Erscheinungsbild des Stadtquartiers und gibt die "Schuld" den hier noch schäbigen alten Wohnhäusern und vor allen Dingen jenem grauen Betonklotz eines ehemaligen Luftschutzbunkers in der Pallasstraße: "In letzter Zeit kam nun der Bunker wieder ins Gespräch. Nach den Vorstellungen der Senatsinnenverwaltung soll er als Frühwarnstation für den Zivilschutz sowie als Schutzraum für über 3000 Menschen ausgebaut werden...Spekulationen, den Bunker abzureißen...erwiesen sich als unrealistisch. Wann dieser (Ausbau) erfolgen soll und wie hoch die wirklichen Kosten sein werden, steht allerdings noch in den Sternen."

Am 18. Dezember 1980 bezifferte "Der Tagesspiegel" die Kosten auf mehr als acht Millionen Mark, zudem gab der Bezirk Schöneberg mit dem Baubeginn seine Zuständigkeit an das Bundesamt für Zivilschutz ab.

Die Antwort der Bezirksregierung auf eine Große Anfrage der Fraktion der SPD der Bezirksverordnetenversammlung Schöneberg nannte als voraussichtlichen Baubeginn der Instandsetzungsarbeiten den Februar 1986. Der Bunker sollte als Standort für die zentrale Einrichtung eines Warnamtes vorgesehen sein und als öffentlicher Schutzraum für 5000 Personen ausgebaut werden.

Ein Antrag der "Alternativen Liste" vom 6.1.1986 in der Bezirksverordnetenversammlung Schöneberg, den "Ausbau des Bunkers Pallasstraße zu stoppen und keine Gelder für kriegsvorbereitende Maßnahmen zur Verfügung zu stellen" wurde zwar beschlossen, erzielte bei den zuständigen Stellen aber keine Wirkung. Mit Bezug auf die "Anordnung der Alliierten Kommandantur Berlin vom 1. Oktober 1965" wurden die bauvorbereitenden Maßnahmen eingeleitet.

In Schöneberg bildeten engagierte Bürger ein "Kiezbündnis", um gegen den Ausbau des Bunkers zu protestieren bzw. diesen zu verhindern. In einem Flugblatt heißt es " Was bringt uns der Bunker? 10 Mio DM verschwendete Steuergelder, eine starke Beeinträchtigung des Schulbetriebes der Sophie-Scholl-Oberschule durch eine Sperrung des Schulhof und den Baulärm. Er bietet aber keinen Schutz im Falle eines Atomkrieges, weil die Umgebung länger radioverseucht ist als man im Bunker überleben kann." (29)

Der Autor hatte im Oktober 1994 Gelegenheit, das Innere des Bunkers in Augenschein zu nehmen. Maria Derewjanko besuchte zum ersten Mal nach ihrer Befreiung im April 1945 den Ort ihrer Internierung und das Bezirksamt Schöneberg ermöglichte eine Bunkerbesichtigung. Seitdem finden regelmäßige Führungen durch den Bunker und über das ehemalige Zwangsarbeiterlagergelände statt. Die jährlichen Veranstaltungen am "Tag des offenen Denkmals" werden seit 1995 von einer außerordentlich stark interessierten Öffentlichkeit angenommen und es finden regelmäßig weitere Begehungen statt, selbstverständlich auch mit den ehemaligen Zwangsarbeitern während ihrer Berlinbesuche.

2001 wird sich das Erscheinungsbild des Bunkers wandeln. Im Rahmen eines "Quartiersmanagements" zur Verbesserung des Wohnumfeldes wird der Bunker an drei Seiten begrünt, eine Seite bleibt in authentischer Form erhalten. Zwischen dem Bunker und dem ehemaligem Lagergebäude wird ein Ort der Erinnerung an die Zwangsarbeiter gestaltet. Die Konzeption wurde von Schülerinnen und Schülern der Sophie-Scholl-Oberschule seit Februar 2000 erarbeitet.

Der Bunker an der Pallasstraße ist nicht mehr nur ein grauer Betonklotz. Er ist ein Mahnmal gegen den Krieg. Er ist der Ort der Erinnerung an die Leiden der Zwangsarbeiter.

Bodo Förster

Anmerkungen

1 Demps, Laurenz (unter Mitarbeit von Hölzer, Reinhard): Zwangsarbeit und Zwangsarbeiterlager in der faschistischen Reichshauptstadt 1939 bis 1945. In: Miniaturen zur Geschichte, Kultur und Denkmalpflege Berlins, herausgegeben von den Gesellschaften für Heimatpflege und Denkmalpflege Berlin im Kulturbund der DDR, Nummer 20/21, Berlin 1986.

2 Eschebach, Insa: Zwangsarbeiterlager in Schöneberg. In: Leben in Schöneberg/Friedenau 1933-1945. Alltag im Nationalsozialismus, Gewaltherrschaft und Widerstand. Berlin 1987(2), S.120/121

3 Die erste Ausstellung wurde von der Berliner Geschichtswerkstatt unter dem Titel:"Spurensicherung in Schöneberg 1933 ('Rote Insel'/Lindenhof/'Jüdische Schweiz') im April bzw. Mai 1983 veranstaltet. Die zweite Ausstellung organisierte das Bezirksamt Schöneberg, Abt. Volksbildung, Kunstamt unter dem Titel "Leben in Schöneberg/Friedenau 1933-45 - Nationalsozialistische Gewaltherrschaft und Widerstand - im Oktober/November 1983 (vgl. auch Anmerkung 2)

4 Vgl. Protokoll des Zeitzeugengesprächs auf Seite

5 Scholze-Irrlitz, Leonore: Am Ende der Idylle. Das Durchgangslager für Zwangs-und Fremdarbeiter in Berlin-Wilhelmshagen. In: Arbeit für den Feind. Zwangsarbeiter-Alltag in Berlin und Brandenburg (1939-1945), S. 14 bis 27.

6 1942 war der Name "Fürstenwalder Straße" (vgl. Bauplan: 'Arbeiter Durchgangslager Berlin-Ost, Lager 104, Berlin-Wilhelmshagen' vom 7.3.1942, abgedruckt in: vgl. Anmerkung 5, S. 19)

7 Zeitzeugengespräch mit Horst Schütze am 11.9.2000. H. Schütze wohnte mit seiner Mutter im Gebäude Pallasstrasse 12 gegenüber dem Lager "Augusta-Schule".

8 Janke warb mit dem Werbespruch "Tanke bei Janke". Das "Amtliche Fernsprechbuch für den Bezirk der Reichspostdirektion Berlin 1941" verzeichnet auf Seite 570: Janke, Gustav, Autom. Großtankst. Garag. W 35 Pallasstr.33.

9 Schäche, Wolfgang: Architektur und Städtebau in Berlin zwischen 1933 und 1945. Planen und Bauen unter der Ägide der Stadtverwaltung. Die Bauwerke und Kunstdenkmäler in Berlin (Hrsg. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz. Landeskonservator.) Beiheft 17, Berlin 1991, S. 241 bis 245.

10 Brückner/Remmelmann: Das Zentralbüro der deutschen Arbeitsfront in Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 60. Jg., 1940, S. 443-454. (Zit. nach Schäche, Wolfgang, vgl. Anmerkung 9)

11 Zeitzeugengespräch mit H. Schütze, vgl. Anmerkung 7

12 "Arbeit durch Vernichtung" bezeichnete in der Rasseideologie der Nationalsozialisten eine der Methoden, "rassisch Minderwertige" zu ermorden.

13 Interview Maria Derewjanko vom 16. Mai 1998. Abgedruckt in: Sophie-Scholl-Magazin Nr. 5, Berlin 1998, S.15

14 Zeitzeugengespräch Wassilij Derewjanko. In: "Wir kamen nicht freiwillig. Zwangsarbeiter in Berlin." Dokumentation von Wilma Pradetto. Sender Freies Berlin, Drittes Fernsehprogramm B1 2000.

15 Ebenda

16 Vgl. Abb.

17 Zeitzeugengespräch mit H. Schütze, vgl. Anmerkung 7

18 Aussage einer Anwohnerin

19 Vgl. Abb.

20 Vgl. Anmerkung 8

21 Rechtschreibfehler sind im Original

22 Archiv der Sophie-Scholl-Oberschule

23 Vgl. Anmerkung 8 bzw. 20

24 Wassilij Derewjanko berichtete von einer für den Bunkerbau vorbereiteten Baustelle bzw. Baugrube.

25 Aktenvermerk vom 7.4.1953

26 Ehemaliges Zentralbüro der "Deutschen Arbeitsfront". Vgl. Anmerkung 9 bzw. 10

27 Name der Zeitung unbekannt, vermutlich "Berliner Morgenpost"

28 Auf dem Nachbargrundstück steht das Berliner Kammergericht. In diesem Gebäude befand sich von 1945 bis 1990 der "Alliierte Kontrollrat".

29 Alle genannten Zeitungsartikel sind im Archiv der Sophie-Scholl-Oberschule

Der Familienbunker des "Ostarbeiters" Derewjanko

Willkommen in meinem Bunker!" - sagte laut mit einem starken ukrainischen Akzent Wassilij Iwanowitsch Derewjanko. Alle lachten freundlich. Alle - das waren dreißig Menschen, Teilnehmer einer Führung, die der unermüdliche Bodo Förster organisiert hatte, der Geschichtslehrer aus der Sophie-Scholl-Oberschule, die nicht weit vom Bunker entfernt ist und die Wassilij Iwanowitsch liebenswürdigerweise eingeladen hat.

Wir standen um Herrn Förster herum, der mit einem Schlüsselbund rasselte. Endlich gingen wir ganz langsam im Gänsemarsch in die Dunkelheit hinein, hinein in einen riesigen Kasten aus Beton ohne Fenster. Die Wände dieses Kastens waren ungefähr dreißig Meter lang.

Vom Herbst 1943 - Wasja Dererwjanko war noch nicht sechzehn Jahre alt - bis zum Siegesmai 1945 hat er, wie auch viele andere Hunderte "Ostarbeiter", dieses sinnlose Objekt im Bezirk Schöneberg gebaut.

Wassilij Iwanowitsch nannte es "mein" und lächelte, aber wie man weiß, in jedem Scherz ist nur ein bisschen Scherz. Und heute erinnerte er sich an die vergangene Zeit und daran, wie viel er in der Gefangenschaft leiden mußte, vorher und nachher , und trotzdem hatte er ein seltsames Gefühl - ein merkwürdiger Stolz auf das, was seine Hände geschaffen haben.

Die "Guten Seelen"

Am Anfang jeder guten Sache steht immer ein Mensch, der immer mehr braucht als die anderen. Und in diesem Fall, den ich erzähle, sind es mehrere Menschen, Hunderte...

Vor dem Krieg wohnte die Familie Derewjanko in der kleinen Stadt Konstantinovka, die im Donbas, in der Ukraine liegt. Die Schwester Katerina wurde im Frühling 1943 nach Niedersachsen verschleppt, wo sie im Lager Liebenau lebte und in einem Munitionsbetrieb arbeitete.

Die anderen, Vater, Mutter, Wassilij, die dreizehnjährige Maria und den sechsjährigen Kolja hat die deutsche Armee mitgenommen. Alle Derewjankos kamen nach Berlin zum Bau dieses Bunkers. Sie wohnten neben dem Bunker im Gebäude der evakuierten Schule.

Nach dem Krieg sind sie alle nach Hause zurückgekehrt. Sie sind glücklich durch das System der sowjetischen Filtrationslager gekommen. Und, Gott sei Dank, sie sind alle am Leben geblieben. Am Anfang der neunziger Jahre haben die Derewjankos erfahren, dass ihnen, und den anderen, die im Krieg in Deutschland gearbeitet haben, eben dieses Deutschland Geld auszahlen will ( Vater und Mutter sind zu dieser Zeit schon gestorben, Katerina und Maria wohnen in der Stadt Lviv, Wassilij und Nikolaij in Konstantinovka ). Um ihren Anteil zu bekommen, wie es ihnen gesagt wurde, musste man Dokumente haben, die bestätigten, dass sie in Deutschland waren und dort als "Ostarbeiter" arbeiteten. Aber niemand wusste, wie man diese Dokumente bekommen konnte.

Und dann erinnerten sie sich an die Schule , in der sie "wohnten". Sie glaubten, dass diese Schule noch existieren musste.

Sie glaubten, dass sie noch eine gute Seele finden würden, die ihnen hilft, die ihnen eine Antwort gibt. Und so war es auch. Gute Menschen haben sich gefunden. Die Angestellten der Berliner Post haben den Brief dem Schuldirektor übergeben, obwohl sie wussten, dass diese Schule heute eine anderen Namen trägt. Der Direktor hätte sagen können "Entschuldigung, meine Herren, ich habe viel zu tun, wenden Sie sich an die Behörden, an das Archiv, wohin Sie möchten, aber nicht an uns." Aber in der Schule wurde so etwas nicht gesagt, der Brief wurde aufmerksam gelesen und akzeptiert.

Als erster hat Bodo Förster, der Geschichtslehrer, die Verpflichtung übernommen, das Interesse der Familie Derewjanko durchzusetzen. Mit Wassilij Iwanowitsch beginnt ein Briefwechsel, der zu einer Freundschaft führte und zu einer Freundschaft geworden ist. In der Schule wurde ein Projekt gegründet, das der Familie Derewjanko aus der Ukraine mit Geld, Kleidern und Arzneimitteln hilft. Die Familie Derewjanko hat sich vermehrt, dort gibt es schon Enkel, und alle sind in der Schule keine Fremden, sondern die "Ihrigen".

Die Angelegenheit von der Kompensation

Am Anfang dieses Jahres haben verschiedene Länder die Nachricht verbreitet, dass das Problem der Auszahlung der Kompensation der ehemaligen Sklaven entschieden ist und Deutschland bereit ist, 10 Milliarden DM auszuzahlen, insgesamt die deutsche Regierung und der Fonds der Industrie, in den mehrere hundert deutsche Firmen eingetreten sind. Die wichtigste Sache ist, das Geld vernünftig zu verteilen. In der Wirklichkeit ist es anders: nur 7 Milliarden DM sind gesammelt worden und nicht alle juristischen Fragen sind entschieden.

Die deutschen Freunde wünschen, dass die Familie Derewjanko ihre Kompensation bekommt, aber sie sind nicht sicher. Und schuldig ist in diesem Fall nicht Deutschland, (die deutsche Seite macht es sowieso, früher oder später), aber das "Mütterchen Ukraine".

Die Sache sieht so aus: Die Anträge muss man in der Ukraine stellen. Die Verantwortung tragen die Stiftungen, die in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gebildet wurden. Diese Stiftungen müssen den Aufenthalt der Antragsteller als "Ostarbeiter" bestätigen. Aber diese Stiftungen, besonders die der Ukraine, arbeiten sehr schlecht. Es gibt sehr viele bürokratische Hindernisse. Die alten, kranken Menschen wohnen weit in der Tiefe des Landes und sie haben keine Möglichkeit und kein Geld, um diese Angelegenheit zu erledigen.

Nur gute Menschen um mich herum

Wir gehen an die frische Luft aus dem Bunker heraus. Ich will von Wassilij Iwanowitsch Abschied nehmen, gehe zu ihm. Seien Sie nicht böse auf mich, sagte er zu mir und legte seinen Arm auf meine Schulter - nicht alle Fragen konnte ich beantworten. Viele Jahre sind vorbei, vieles habe ich schon vergessen. Im vorigen Jahr war ich acht Monate bettlägerig. Jetzt gehe ich mit diesem da - er zeigte auf den Gehstock."Denken Sie an Ihre Heimat, Wassilij Iwanowitsch?""Oh ja. Ich sehne mich. Mein Gott, wie sehne ich mich. Ich habe mein Haus nur auf ein paar Tage verlassen und mein Herz ruft mich schon zurück....Ich habe mein ganzes Leben als Kraftfahrer gearbeitet, war weit von zu Hause, und immer wollte ich nach Hause, nach Konstantinovka...""Mit welchen Gedanken werden Sie sich an Deutschland erinnern?"

"Zuerst hatte ich Angst, viel Angst. Aber jetzt nicht mehr. Überall begegneten mir nur gute Menschen, die mir von ganzem Herzen helfen, und ich wünsche allen im Namen Gottes Gesundheit."Und ich werde mich an ihn erinnern, an einen Mann, der schlank, hoch im Wuchs ist, mit hellen Augen, der sehr gerade stand und sich leicht auf den Stock stützte. Er und sein Bunker, ein nutzloses Ding, ein Koloss aus Eisenbeton, ein Ungeheuer, in das so viel Sklavenarbeit hineingelegt wurde. Ein Denkmal der blutigen bösen Zeit des "Dritten Reiches". Und wir hoffen, dass dieses das letzte in der Geschichte der Menschheit gewesen ist.

Übersetzung eines Artikels von Jakov Tscherkassij in "Russisches Berlin" vom 26.6.2000

Die Fotografien des Wehrmachtssoldaten Gerhard Petrick

Die Fotografien des Soldaten Petrick haben den Krieg überdauert, sie sind an der Ostfront entstanden, auch in Konstantinowka, dort wohnte die Familie Derewjanko.

Der Name des Soldaten Petrick wurde von Maria Derewjanko beim ersten Berlinbesuch im Oktober 1994 erwähnt. Sie wollte in Erfahrung bringen, was mit diesem Soldaten geschehen war, denn sie und ihre Familie hatten ihn in angenehmer Erinnerung, er hatte ihnen geholfen und sie beschützt und sie wollte sich bedanken.

Der Bezirksbürgermeister von Schöneberg, Herr Saager, erklärte sich bereit, eine Anfrage beim Suchdienst des Roten Kreuzes zu stellen, aber die Antwort vom 7. März 1995 war abschlägig. Ein "Petrich oder Patrick Gerhard, geb. ca. 1921-1924 aus Berlin" war nicht in der Kartei verzeichnet. Empfohlen wurde eine Anfrage bei der "Deutschen Dienststelle (ehem. Wehrmachtsauskunftsstelle)". (1)

Es war schwierig, den Soldaten Petrick ausfindig zu machen, denn weder die Schreibweise des Namens noch sein Herkunftsort waren zweifelsfrei bekannt. Deshalb unterblieben weitere Recherchen.

In einem Zeitzeugengespräch am 9. Mai 1996 im Schöneberg-Museum konkretisierte Maria Derewjanko die

Situation damals im Haus der Familie: "Bevor wir nach Deutschland gebracht wurden, lebte in unserer Wohnung ein deutscher Soldat, ein junger Mann, Gerhard Petrick. Er wurde 1923 oder 1924 geboren. Ihn verband eine große Freundschaft mit Wassilij. Sie haben sich beide gern gehabt wie Brüder. Er hat immer sein Mittagessen mit uns geteilt und ist zu meiner Mutter gekommen und hat gesagt: "Mama essen". Die Mutter hat irgendetwas zum Mittagessen gemacht, und Gerhard hat immer mit uns Mittag gegessen. Zu meiner Mutter hat er "Mama" und zu meinem Vater hat er "Tato" gesagt, das ist ukrainisch. In dieser Zeit haben wir einige deutsche Wörter gelernt."

Ein Weihnachtspaket für Gerhard Petrick ist in besonderer Erinnerung geblieben, er hatte es von zuhause erhalten und beim gemeinsamen Öffnen lag obenauf ein Tannenzweig. Die besondere Faszination für die Familie Derewjanko ging vom Inhalt des Pakets aus, denn jeder Gegenstand war einzeln eingewickelt und mit einer Schleife versehen.

Alexander Scharsich, ein Lehrer der Sophie-Scholl-Oberschule, recherchierte im Sommer 1998 im Telefonverzeichnis für die Bundesrepublik Deutschland nach allen Personen mit dem Namen des Soldaten. Er rief bei allen verzeichneten Teilnehmern an und in Lahnau war er erfolgreich.

Er sprach mit Frau Petrick, die bestätigte, dass ihr Mann an der Ostfront eingesetzt gewesen war, er war leider einige Jahre zuvor verstorben. Es gab aber noch Fotografien, die sie freundlicherweise an die Schule schickte.

Es sind Fotografien, die deutsche Soldaten in der besetzten Sowjetunion zeigen, Privatfotos, aufgenommen von unbekannten Fotografen, vermutlich von anderen Soldaten. Ein großes Bild im Postkartenformat zeigt den jungen Soldaten Petrick in der Uniform der "Wehrmacht". Drei kleine Fotografien zeigen Menschengruppen im Freien vor ukrainischen Häusern mit Walmdächern aus Blech oder Stroh. Über dem Kopf eines Soldaten ist ein kleines Kreuz eingetragen, das ist Gerhard Petrick.(2)

Eine Fotografie ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Es zeigt eine ukrainische Familie, es ist tatsächlich die Familie Derewjanko, und zwei Wehrmachtssoldaten, eben Gerhard Petrick und Heinrich .(3)

Als das Bild die Freunde in der Ukraine erreichte , war der Wunsch von Maria Derewjanko und ihren Geschwistern in Erfüllung gegangen, sie hatten Informationen über Gerhard Petrick. Die ehemaligen Zwangsarbeiter des "Augustalagers" und des "Ostarbeiterlagers Steyerberg", die auf dem Foto als Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern zu sehen sind, sie hatten endlich wieder ein Bild des Elternhauses, das sie unfreiwillig verlassen mussten und das sie nur als ausgebrannte Ruine wiedersahen.

Die Familie Derewjanko schrieb einen Brief nach Lahnau:

"Sehr geehrte Frau Petrick! Es schreibt Ihnen die Frau, die auf der Fotografie auf der rechten Seite steht, den Fuß zur Seite gestellt. Während des Krieges wohnte Ihr Mann Gerhard in diesem Haus, vor welchem wir fotografiert wurden. Unsere Familie war mit ihm befreundet und schätzte ihn als einen wohlerzogenen und herzlichen Menschen. Unter den Soldaten gab es verschiedene Menschen, es gab grobe, harte und mitleidlose. Aber Gerhard war etwas Besonderes. Oft saßen wir abends zusammen und haben uns, soweit wir konnten, über die Ungerechtigkeit in der Welt unterhalten. Er sprach darüber, wo er kämpfen musste, auch darüber, dass er keine Mutter hatte, sondern nur den Vater, der Gärtner war und mit ihm in Berlin lebte.

Da wir seinen Namen wussten, baten wir schon vor einiger Zeit unsere Freunde aus der Sophie-Scholl-Oberschule diesen ehemaligen Soldaten aus Berlin zu finden.

Im August diesen Jahres war eine Gruppe Lehrer aus dieser Schule bei uns in Lviv. Im Gespräch mit der Tochter des kleinen Jungen, der neben der Mutter steht, habe ich davon erzählt, dass in unserer Familie das Andenken an den deutschen Soldaten Gerhard Petrick bewahrt wird. Im September erhielten wir eine Fotografie, die Sie geschickt haben. Es hat sich bestätigt, dass das unsere Familie ist. Sie können sich sicherlich vorstellen, wie unsere Reaktion auf dieses Foto war.

Frau Petrick, wir alle, aber besonders unser Bruder (er steht zwischen dem Soldaten und der Mutter) interessieren uns vor allem dafür, wann Gerhard zurückgekommen ist. Hat er seinen Vater angetroffen, wo hat er die Kapitulation erlebt, was hat er nach dem Krieg gemacht, hat er über die Ukraine erzählt?

Wir würden Sie gern treffen und eine Menge Fragen stellen.

Wir wünschen Ihnen Gesundheit und gute Laune.

In Verehrung. Familie Derewjanko" (4)

Dem Brief war eine Skizze beigefügt, der zu entnehmen ist, wo die Soldaten Gerhard Petrick und Heinrich ihren Schlafplatz im Hause Derewjanko hatten.

Katerina Derewjanko beschrieb die Situation der Familie während der deutschen Besetzung folgendermaßen: "Unter den Deutschen, sowie unter unseren Leuten waren und sind gute und böse Leute. Dazu kann ein Beispiel dienen. Der Soldat der deutschen Wehrmacht Gerhard Petrick und jener Soldat, der unsere Mutter töten wollte. Gott sei dank passierte das mit uns und unserer Mutter nicht. Unsere Mutter war ein tiefgläubige Frau und sicher schützten ihre Gebete uns vor unvermeidlicher Not und sie halfen Gerhard am Leben zu bleiben. Als er von uns wegging, bat er unsere Mutter, er selbst hatte keine Mutter mehr, für ihn zu beten. Das tat sie." (5)

In einem Zeitzeugengespräch am 21.5.2000 in Liebenau präzisierte Katerina Derewjanko ihre Erlebnisse während der Besatzungszeit: " Ich bin mit Deutschen zusammengetroffen. Zum Beispiel mit dem Soldaten Gerhard Petrick. 'Komm mal her, Katerina. Katz, Katz, Kater. Hundert Jahr' oder 'Zack. Zack. Die Flak.' (6) Er hat damit Spaß gemacht. Er war ein netter Bursche. Es tut mit so leid, dass wir uns nach dem Krieg nicht mehr getroffen haben... Zu dieser Zeit, als Gerhard bei uns gewohnt hat, hat er uns sozusagen verteidigt. Wir wurden nicht bestohlen, uns wurde nichts weggenommen. Wir haben uns dadurch wie hinter einer sicheren Mauer gefühlt. Er hat auch auf Nicolaij aufgepasst. Er war ein wirklich netter junger Mann. Ich habe schon beschrieben, dass unsere Mutter bald getötet worden wäre ... Wir haben damals ein sehr kleines Haus gehabt. Die Tür zum anderen Zimmer war dicht an der Wand. An der Wand war ein Schieber für den Ofen. Wenn geheizt wurde, musste man diesen Schieber öffnen. Wenn die Kohle glühte, hat man den wieder zugemacht. Das Bett von diesem deutschen Soldaten stand im anderen Zimmer und er musste an diesem Schieber vorbeigehen. Meine Mutter hatte angefangen zu heizen in der Küche. Sie hat diesen Schieber geöffnet. Dieser deutsche Soldat wollte zu seinem Bett gehen und hat sich an diesem Schieber den Kopf gestoßen. Das hat natürlich sehr weh getan. Er hat die Pistole gezogen und hat sie auf meine Mutter gerichtet. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Ein deutscher Offizier kam herein und hat "Halt" gerufen. Der deutsche Soldat hat sich umgedreht und mit dem Offizier unterhalten. Das war die Rettung für unsere Mutter, sie ist am Leben geblieben. Ich denke, dass Gott diesen Offizier geschickt hat, um die Mutter zu retten. Wir haben diesen Offizier seitdem natürlich ganz anders angeschaut."

Zur Einquartierung der deutschen Wehrmachtssoldaten und zum Leben unter der Besatzung berichtete Katerina Derewjanko: " Als die deutschen Truppen kamen, es kamen ja sehr viele, sind vorher zwei deutsche Soldaten durch das Dorf gegangen. Sie haben die Häuser kontrolliert, alles genau angesehen und etwas aufgeschrieben. Uns haben sie nicht angeschaut, denn wir haben für sie gar nicht gezählt. Sie sind schweigend in das Haus hereingekommen und auch schweigend wieder hinaus gegangen. Nach einiger Zeit kamen dann Soldaten mit ihrer gesamten Ausrüstung. Die haben uns auch nicht gefragt, ob man dieses Bett oder dies und das benutzen dürfe. Die haben sich dort hineingelegt und den Platz eingenommen." (7)

Katerina Derewjanko wurde in dem Zeitzeugengespräch auch nach schlechten Erfahrungen mit den deutschen Truppen befragt, aber sie wollte sich dazu nicht äußern, weil es schmerzhafte Erinnerungen daran gibt. (8)

"Es war interessant, wie wir uns mit Gerhard Petrick verständigt haben. Daran denke ich mit Vergnügen, das war wirklich sehr schön. Wenn er ins Haus gekommen ist, da wurde es heller und alle haben sich gefreut, dass er gekommen ist. Damals hat es uns sehr leid getan, dass er gehen musste. Krieg ist Krieg. Wir haben uns immer alles mit Händen und Füßen gezeigt. Und wir haben einzelne Wörter miteinander gewechselt. Gerhard konnte einige Wörter Russisch ... Sein Truppenteil stand vielleicht sechs Monate bei uns im Dorf. Der Winter war sehr sehr streng. Wenn man ein Glas Wasser auf den Hof geschüttet hat, dann sind die Wassertropfen als Eiszapfen herunter gefallen. So kalt war es. Zu dieser Zeit haben die Deutschen auf dem Werksterrritorium Kriegsgefangene gehalten, ohne Heizung und ohne Kleidung. Uns hat das sehr getroffen, wie unmenschlich mit diesen Gefangenen umgegangen wurde. Wir waren zu dieser Zeit schlecht gekleidet, aber es gab Menschen, die haben diesen Kriegsgefangenen gebracht, was sie konnten und sie haben es über den Zaun des Lagers geworfen. Es gab aber auch Vorfälle, dass diejenigen erschossen wurden, die den Gefangenen geholfen haben. Danach haben die Menschen aus Angst nicht mehr geholfen. Ich habe einmal einen Mann gesehen, der wahrscheinlich aus einem Lager geflohen war. Ich konnte sehen, dass die Fingerspitzen und die Zehen erfroren waren, denn sie waren weiß und mit Lappen umwickelt. Meine Großmutter hat ihm zu essen gegeben, ihn gefüttert und danach ist er weggegangen."

Als Gerhard Petrick die Familie Derewjanko verliess, ging er mit Wassilij hinter das Haus und die beiden jungen Männer, die inzwischen Freunde geworden waren, verabschiedeten sich unter Tränen. (9) "Gerhard hat zu Wassilij gesagt: 'Gerhard kaputt, Gerhard Stalingrad!' Er hat gewusst, dass meine Mutter eine gläubige Frau ist und er hat um ihren Segen gebeten. Er hat gesagt: 'Mama. Bete für mich.' Mutters Gebet hat ihm geholfen. Er ist zurückgekehrt aus dem Krieg. Einen Krieg hätte es nie gegeben, wenn die Menschen sich so verstanden hätten, wie Gerhard sich mit meiner Familie verstanden hat." (10)

(1) Schreiben des Deutschen Roten Kreuzes (Suchdienst München) vom 7.3.1995 an den Bezirksbürgermeister von Berlin-Schöneberg

(2) Angabe von Frau Erna Petrick in einem Brief vom 28. August 1998

(3) Der Nachname des Soldaten "Heinrich" ist nicht bekannt

(4) Archiv Sophie-Scholl-Oberschule

(5) Brief von Katerina Derewjanko im Februar 2000. Sie trägt nach eigenen Angaben auf dem Bild des Soldaten den gleichen Mantel, in dem sie deportiert wurde. Das Passfoto für den Arbeitsausweis des "Ostarbeiterlagers Steyerberg" zeigt sie mit hochgeschlagenem Kragen, denn niemand sollte sehen, dass ihr die Zöpfe abgeschnitten worden waren.

(6) Diese Begriffe wurden während des Gesprächs in deutscher Sprache zitiert und sie sind erstaunlicherweise im Gedächtnis geblieben.

(7) Zeitzeugengespräch am 21.5.2000 in Liebenau

(8) Ebenda

(9) Maria Derewjanko erzählte bereits während ihres ersten Besuchs im Oktober 1994 in Berlin von dem Abschied der beiden jungen Männer

(10) vgl. Anmerkung (7)


Chronik